Frühjahr 2015

Ein „Verlag Neue Aufklärung“?
Antworten auf häufige Fragen und aktuelle Bezüge

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1. Ist eine Neue Aufklärung nicht schon allzu oft gefordert worden?

Nun, jedenfalls gibt es in Bezug auf die Zeitdiagnose keinerlei Differenz zu Heiner Geißlers Sapere aude. Warum wir eine neue Aufklärung brauchen von 2012: Angesichts der Dominanz des Neoliberalismus rücken wir vom unbedingten Vorrang der Menschenwürde, der Pointe der Aufklärung, zunehmend ab – nicht nur durch die Degeneration unserer Demokratie zu einer ‚Postdemokratie’ (Crouch). Doch – worauf kann sich die Kritik dieser Entwicklung stützen, wenn der Neoliberalismus streng wissenschaftlich erscheint? Geißler sieht das Problem durchaus (S. 141). Dessen Lösung kann er aber nur einfordern – von Wissenschaftlern, die sich teilweise ihrerseits nicht anders zu helfen wissen, als Irrationalität und Unvernunft gegen die neoliberale Hegemonie zu empfehlen (so Wolfgang Streeck in seinem eigentlich hervorragenden Buch Gekaufte Zeit, S. 218 ff.).

Was bislang fehlte, ist also das erkenntniskritische Fundament einer ‚neuen Aufklärung’ – etwas, das die historische Aufklärung hatte, das durch die Wissenschaft aber schlecht verwaltet worden ist: Etwa 270 Jahre lang haben gerade Physikerinnen und Mathematiker bereits die Metaphysik Leibniz’ (1646-1716) für das wissenschaftliche Weltbild gehalten, während die ebenfalls aus der Reflexion der Wissenschaftlichen Revolution gewonnene Erkenntnistheorie Kants (1724-1804) sowie seine darauf aufgebauten Konzeptionen der Autonomie, des Subjekts, der Moral usw. als bloß philosophisch galten. Und vor allem: Obwohl das leibnizsche Weltbild in der Physik heute überwunden sein dürfte, prägt es doch immer noch die konzeptionellen Grundlagen gerade jener nichtphysikalischen Disziplinen, die dem physikalischen Vorbild traditionell nacheiferten und bei uns daraufhin auch die größte wissenschaftliche Autorität genießen. Insbesondere die heutige neoliberale ökonomische Theorie ist kaum etwas anderes als eine getreue Imitation Leibnizens Metaphysik; aber dasselbe galt lange auch für die Biologie – und nicht nur die (s. u.: Punkt 11.).

 

Das Gründungsprogramm des Verlags Neue Aufklärung hat deshalb die entsprechende Rekonstruktion des gesamten wissenschaftlichen Weltbildes zum Gegenstand: Die Allgemeinen Grundlagen der Politischen Theorie zeigen, dass die Vermeidung der leibnizschen Irrtümer nicht nur die Erkenntnistheorie Kants bestätigt und zu deren organischer Fortentwicklung führt, sondern auch seine philosophischen Konzepte als wissenschaftliche ausweist – jene Konzepte, die unsere moderne, demokratische und rechtsstaatliche Politische Theorie wesentlich tragen.

2. Steht nicht erst einmal die Aufklärung der islamischen Welt an und verletzt der Terror der Islamisten die Menschenwürde nicht in viel stärkerem Maß als der Neoliberalismus?

Letzteres kommt sehr auf die Perspektive an, während wissenschaftliche Aussagen diesbezüglich natürlich neutral bleiben müssen. Der islamistische Terror ist für viele eine grausame Realität, die an den nationalsozialistischen Terror denken lässt. Aber auch „Sparprogramme töten“ (Stuckler/Basu 2014, Wagenbach) usw. Es kann deshalb nicht um das Aufrechnen der Opfer gehen, sondern nur um die prinzipielle Verteidigung der Menschenwürde gegen alle Versuche, deren Verletzung mit Verweis auf vermeintlich höhere – seien es angeblich wissenschaftliche oder religiöse – Wahrheiten zu rechtfertigen.

Auch mit Blick auf den islamistischen Terror ist deshalb die Erkenntniskritik (s. o.: 1.) das Mittel der Wahl; nämlich konkret der in der Tat für die alte, historische Aufklärung grundlegende Gedanke, dass gerade der gläubige, gottesfürchtige Mensch die eigene Beschränktheit als Mensch (die eigene Differenz zu Gott) anerkennen und sich deshalb eingestehen müsse, den Willen Gottes nicht erkennen zu können. Wer zu wissen meint, dass der vom eigenen Glauben abweichende Glaube einer anderen Gruppe falsch ist und nicht dem Willen Gottes entspricht, erklärt die eigene Teilperspektive zur Gesamtperspektive und sich selbst also zu Gott – oder umgekehrt die Gesamtperspektive Gottes zu einer bloßen Teilperspektive – was so oder so Gotteslästerung bedeutet. Gerade dem gläubigen, religiösen Menschen bleibt deshalb am Ende nur das eigene, kritische Denken – Aufklärung im kantschen Verständnis – bzw. der Versuch der Konstituierung objektiver, wissenschaftlicher Erkenntnis mittels der Koordinierung aller möglichen Einzelperspektiven.

3. Erlauben die Allgemeinen Grundlagen der Politischen Theorie (AGPT) auch eine Bewertung von Abkommen wie TTIP, CETA usw.?

Sie sind im Grunde genau zu diesem Zweck geschrieben, denn mit Abkommen wie TTIP würde die übernationale Konstitutionalisierung des Neoliberalismus weiter vorangetrieben – und im gleichen Maß die Abkehr von unserer aufgeklärten, demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsordnung. Die AGPT bzw. die einzelnen Bücher beginnen deshalb sehr ausdrücklich damit, auf diese Problematik hinzuweisen und sie als wesentliche Motivation des gesamten AGPT-Projekts anzuführen.

4. Krankt nicht jede Kapitalismuskritik daran, am Ende keine Alternative anzubieten?

Mag sein – aber nur, sofern man ‚Kapitalismuskritik’ auf ‚Ablehnung des Marktes’ verkürzt und als Alternative zum Kapitalismus also nur die Planwirtschaft möglich erscheint. Doch dafür liefern die AGPT keinerlei Anhaltspunkte. Was sie zeigen, ist, dass der Markt, mit Kants drei Kritiken zu sprechen, kein Gegenstand der reinen Vernunft ist (keine mathematische Wahrheit, gegen die kein vernünftiger Widerspruch möglich wäre), sondern einer der Urteilskraft, also der pragmatischen Anwendung der praktischen Vernunft (Moral): Obwohl er den Menschen als Mittel statt als Selbstzweck behandelt und damit eigentlich gegen den Kategorischen Imperativ verstößt, ist der Markt ein vielfach nützliches Instrument der demokratischen Selbstregulierung einer die Menschenwürde als oberstes Prinzip anerkennenden (und den Markt somit im Zweifelsfall begrenzenden) Gesellschaft.

Der Neoliberalismus hingegen will den Markt als Herrscher über die somit dann nicht mehr demokratische Gesellschaft einsetzen. Tatsächlich wäre dieser Herrscher auch vernünftig, könnte die leibnizsche Metaphysik als das wissenschaftliche Weltbild gelten (s. 1. bzw. 11.). Doch da dies nicht der Fall ist, handelt es sich in Wahrheit um einen vielfach irrationalen und sich notwendig der eisernen Faust des Staates bedienenden, die Menschenwürde vielfach verletzenden Despoten.

5. Leisten die AGPT nicht nur eine halbherzige Kapitalismuskritik?

Wer die Ausführungen unter Punkt 4. als Indiz für eine nur halbherzige Kapitalismuskritik betrachtet, übersieht, dass Kant im Vergleich zu Marx der konsequentere Überwinder der erwähnten Leibniz-Metaphysik und insofern auch der radikalere Gesellschaftskritiker war. Marx hing über Hegel (‚was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig’) an Leibniz, denn obwohl einer der ersten Analytiker der Marktdynamik (dazu sogleich), lief für ihn die Geschichte doch auf ein gutes Ende zu. „Kant ist der einzige große Philosoph, der auf der völligen Verschiedenheit von Vernunft und Realität bestanden hat“ (Susan Neiman Moralische Klarheit, 2010, S. 181). Mit Kant hätte niemand behaupten können, der reale Sozialismus stelle die ‚beste aller möglichen Welten’ (Leibniz) dar. Und mit Kant kann auch niemand behaupten, die neoliberale Gesellschaft tue es.

6. Muss man Kapitalismuskritik nicht letztlich so betreiben, wie es Thomas Piketty in Das Kapital im 21. Jahrhundert tut?

Was Piketty unternimmt, ist eine kritische, intelligente, auf statistischen Methoden basierende Analyse des langfristigen dynamischen Verhaltens des Marktes – während die AGPT aufzeigen, dass Derartiges überhaupt legitim, interessant und notwendig ist. Denn angesichts des leibnizschen Erbes (s. 1., 11.) ist es für die ökonomischen Theoretiker keineswegs selbstverständlich, dass der Markt ein komplexes dynamisches System darstelle: In der Theorie des (statischen) allgemeinen ökonomischen Gleichgewichts wurde die Marktdynamik einfach ausgeblendet und in der heutigen neoliberalen Theorie wird so getan, als handele es sich um einen Prozess ohne alle Wechselwirkungen zwischen den Marktteilnehmern (da diese über ‚rationale Erwartungen’ verfügten). 

Vor diesem Hintergrund analysieren die AGPT also, was sich trotz aller Komplexität allgemein über die Dynamik des Marktes sagen lasse – nämlich angesichts der Ergebnisse der abstrakten mathematischen Theorie dynamischer Systeme im weitesten Sinn. Dadurch zeigt sich zum einen, dass die in der ökonomischen Theorie bisher gepflegte, vereinfachende Betrachtung der Marktdynamik in der Tat unzureichend ist. Und zum anderen werden die abstrakten möglichen Mechanismen herausgearbeitet, die zum Beispiel Pikettys statistische Ergebnisse ‚logisch’ erscheinen lassen.

7. Sagen die AGPT etwas zur Finanz- und Schuldenkrise?

Nur sehr allgemein. Zum einen wird mit der neoliberalen ökonomischen Theorie genau jene Lehre der gründlichen Erkenntniskritik unterzogen, die – vermittelt über die wirtschaftspolitische Praxis und einen großen Konsens aller maßgeblichen Eliten – ursächlich zur Krise von 2007/08 geführt hat.

Und zum anderen lässt sich im Umgang mit den Folgen dieser Krise beobachten, dass man teilweise immer noch auf dieselbe Lehre setzt und jedenfalls unbeirrt am Ziel einer immer fester gefügten übernationalen neoliberalen Rechtsordnung festhält – die, wie gesagt, den verfassungsmäßigen Vorrang der Menschenwürde aushebelt und vor der die AGPT insgesamt warnen (s. o.: 1., 3.).

8. Sind die AGPT für die Diskussion um eine Erneuerung der ökonomischen Theorie bzw. des Ökonomiestudiums relevant?

Die AGPT rekonstruieren nicht nur das gesamte wissenschaftliche Weltbild. Sie unterziehen daraufhin auch die zentralen Konzepte der wirtschafts- und neoliberalen ökonomischen Theorie einer gründlichen Erkenntniskritik, insbesondere also das Konzept der ‚unsichtbaren Hand des Marktes’ (erstes Buch) und jenes des ‚rationalen’ homo oeconomicus (zweites Buch) – und liefern auch die jeweilige Alternative gleich mit, weil ihr Ausgangspunkt ja gerade das rekonstruierte positive Bild ist. Außerdem bestimmen sie anschließend noch die Grundlinien des wissenschaftlichen Bildes der sozialen Welt und also erneut auch einer entsprechenden, alternativen ökonomischen Theorie (drittes Buch).

9. Krankt nicht jede Kritik am globalen Neoliberalismus daran, am Ende keine alternative globale politische Ordnung bieten zu können?

Dies ist eine ernst zu nehmende Frage, zumal vor dem Hintergrund eines weiteren allgemeinen Charakteristikums der Marktdynamik (s. o.: 5.), das die AGPT weitgehend schuldig bleiben: Ohne einen ‚globalen Mechanismus des Überschussrecyclings’ (Varoufakis 2012: Der globale Minotaurus) endete unsere oligopolistische Marktwirtschaft schnell in einer Dauerrezession wie jener nach 1929.

Aber klar ist auch, dass die neoliberale Ordnung alles andere als perfekt funktioniert – angesichts diverser Krisen, von denen die Finanzkrise von 2007/2008 nur die größte war, der immensen Kollateralschäden an Menschenwürde und Umwelt, und auch angesichts der aktuellen Funktionsschwäche des neoliberalen Mechanismus des globalen ‚Überschussrecyclings’.

Trotzdem ist natürlich die Frage zu beantworten, welche anderen politischen Institutionen unsere globalisierte Welt denn haben solle, wenn nicht die neoliberalen. Und das ist zwar zunächst ganz generell die Frage der Politischen Theorie; und auch die AGPT sind deshalb nicht auf den Nationalstaat beschränkt. Allerdings mögen mit der Globalität bestimmte neuartige Probleme verbunden sein, denen sich die Politische Theorie zuvor noch nicht hatte widmen müssen. Damit beschäftigen sich die AGPT ganz am Ende, wobei sie zu einem ähnlichen Ergebnis wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden kommen.

10. Was ist mit Digitalisierung, Big Data, Schirrmachers Ego usw.?

Es ist ein großes Verdienst des verstorbenen Frank Schirrmacher, in seinem Buch Ego – Das Spiel des Lebens (Blessing, 2013) auf einen Aspekt hingewiesen zu haben, der selbst nicht im Fokus der AGPT steht, zu dem diese aber doch sehr viel zu sagen haben: Es gebe bestimmte, für unsere heutige Gesellschaft kritische Maschinen, die uns, den realen Menschen, Entscheidungen abnehmen, und zwar auf der Grundlage des neoliberalen Modells des menschlichen Verhaltens, des ‚rationalen’ homo oeconomicus. Selbst also, wenn dieser homo oeconomicus dem wissenschaftlichen Menschenbild gar nicht entsprechen sollte, entspräche die gesellschaftliche Wirklichkeit doch zunehmend einer Welt, in der er es doch täte – und in der sich der Neoliberalismus durchgesetzt hätte.

Heute muss uns eigentlich niemand mehr für die Bedeutung von Internetalgorithmen und dergleichen sensibilisieren, doch zunächst einmal hat Schirrmacher viel Hohn und Spott ertragen müssen. Denn er kritisierte letztlich den Kern der neoliberalen Theorie, die sich nicht mehr darauf verlässt, mit der ‚unsichtbaren Hand des Marktes’ zu überzeugen. Stattdessen argumentiert sie mit dem vermeintlichen wissenschaftlichen Menschenbild, das nun einmal mit dem homo oeconomicus identisch sei; weshalb nur auf Grundlage dieses Modells konzipierte politische Institutionen, bis hin zu großen technischen Systemen, als wissenschaftlich fundiert und insofern vernünftig gelten könnten.

Wie bereits in Punkt 8. erwähnt, zeigen die AGPT (vor allem im zweiten Buch) sehr gründlich, dass der homo oeconomicus keineswegs das wissenschaftliche Menschenbild darstellt (das viel eher mit dem kantschen Konzept des Subjekts übereinstimmt). Dabei vermeiden sie den häufigen Fehler, den auch Schirrmacher begeht, den homo oeconomicus als Nutzen maximierenden Egoisten zu charakterisieren, denn tatsächlich handelt es sich um einen Egozentriker, der selbst dann noch egozentrisch handelt, wenn das seine Interessen verletzt (wie im ‚Gefangenendilemma’). Der homo oeconomicus ist also insbesondere unfähig zur Kooperation und damit zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft – zur Einigung auf (ständig zu überprüfende) Regelungen, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Kant, Rechtslehre, zit. nach Höffe: Kants Kritik der praktischen Vernunft, 2012: 222)

Hätte Leibniz in der Frage des wissenschaftlichen Weltbildes Recht behalten, hätte freilich Gott eine solche Regelung bereits vor aller Zeit für uns getroffen: Er hätte ein für alle Mal eine ‚prästabilierte Harmonie’ zwischen uns geschaffen, so dass wir uns trotz vollkommen egozentrischen Verhaltens (als ‚fensterlose Monaden’) niemals in die Quere kämen.

Es ist leicht zu erkennen, dass die wirtschaftsliberale Utopie dieses Weltbild imitiert, und die AGPT messen dem große Bedeutung bei. Doch sie weisen mit Nachdruck auch darauf hin, dass sich bis vor einigen Jahren auch die Biologie an Leibniz orientiert und dem Neoliberalismus mit seinem homo oeconomicus entsprechend zugearbeitet hat – denn der orthodoxen Molekulargenetik zufolge sollten wir als Organismen durch unser Erbgut weitgehend programmiert sein und also wie Leibniz’ ‚fensterlose Monaden’ durch die Welt gehen: Unser gesamtes Verhalten sollte egozentrisch dem vererbten Programm folgen, nachdem die Evolution in grauer Vorzeit sicher schon dafür gesorgt habe, dass wir dadurch nicht in Konflikt mit unserer Umwelt geraten. Doch natürlich kann die Evolution keineswegs alle Herausforderungen voraussehen, denen wir in unserem Leben begegnen. In der Biologie ist man sich heute denn auch einig, dass ein Organismus ständig lernt, er seine Programmierung also ständig weiterentwickelt. Zur ‚Phylogenese’ kommt die ‚Ontogenese’.

In der Kognitionswissenschaft aber – und vor allem, sobald es um Künstliche Intelligenz und also letztlich den gesamten Bereich der Computertechnik, der Digitalisierung usw. bis hin zu Schirrmachers Entscheidungsmaschinen geht – geben sich die Anhänger Leibniz’ noch keineswegs geschlagen, ganz im Gegenteil. Auch dies wird deshalb in den AGPT ausführlich behandelt, wobei die allerneuesten Entwicklungen vielleicht nicht mehr berücksichtigt werden, die zentrale Problematik aber eben doch deutlich zu Vorschein kommt: Auch mit Internet, Google, Computerbörsenhandel, Industrie 4.0 und all dem stehen wir immer noch vor derselben Problematik wie die frühen Kybernetiker in den 1940er Jahren: Berechnung, Programmierung, Egozentrismus, Leibniz oder Autonomie, Interaktion, Kooperation, Kant. Was sich geändert hat, ist lediglich – aber das ist freilich das Problem – die Brisanz der Frage, wer das von dieser Entscheidung abhängige Objekt sei. Die Maschinen, die wir pragmatisch so oder anders bauen? Oder werden umgekehrt wir selbst zugerichtet?

11. Lässt sich kurz erklären, worum es bei Leibniz’ Irrtum genauer geht?

Leibniz’ Irrtum bestand im Glauben an die absolut exakte Berechenbarkeit des Naturprozesses gemäß den ‚Bewegungsgleichungen’ der physikalischen Theorie – kurz: der ‚Dynamik’. Leibniz erwartete, dass sich die mathematischen Probleme, die sich bei der exakten Berechnung einer konkreten Dynamik stellten, dereinst schon lösen lassen würden; und er fragte sich daraufhin schon einmal, was das dann für unser Verständnis der Welt, also für das wissenschaftliche Weltbild bedeutete. Seine Antwort war tadellos abgeleitet, doch seine Voraussetzung hat sich als falsch entpuppt: Wie der französische Mathematiker Poincaré schon 1892 zeigte und man ab 1960 immer mehr anerkannte, ist die Dynamik bereits aufgrund ihrer mathematischen Eigenschaften (und nicht erst wegen mangelnder Genauigkeit der verwendeten Daten oder dergleichen) nicht vollkommen exakt berechenbar – nämlich wegen der ‚Nichtlinearität’ bzw. mangelnden Linearisierbarkeit vieler Bewegungs-, das heißt Differentialgleichungen.

Am Ende entspricht das wissenschaftliche Weltbild deshalb eher unseren laienhaften Erwartungen als denen, die gerade die strengsten Naturwissenschaftler lange hegten: Ständig wirkt etwas auf etwas anderes ein, oder es bildet mit ihm größere Einheiten, oder es zerstört diese usw. Das klingt banal – doch ist es tatsächlich der entscheidende Punkt: Was man lange für das wissenschaftliche Weltbild hielt, war das Bild einer perfekten Harmonie – die somit auch keinerlei Kooperation oder Koordination erforderte. Egozentrismus, programmiertes Verhalten, reichten aus; die Harmonie wurde dadurch nicht tangiert. Ja, Harmonie und Egozentrismus waren die beiden Seiten einer Medaille.

Und was ist mit ‚Chaostheorie’, ‚Selbstorganisationsforschung’, ‚Synergetik’ usw., die vor einigen Jahren so hohe Wellen bis in intellektuelle Kreise und ins Feuilleton schlugen? Wollten diese Ansätze nicht bereits gerade das alte, ‚lineare’ Weltbild überwinden? Ja, eigentlich schon. Und die Idee der ‚Selbstorganisation’, des ‚Zusammenwirkens’ (also der ‚Synergie’), ist dafür auch tatsächlich der entscheidende Ansatzpunkt. Aber sie versuchten es auf eine Weise, die die gute alte Harmonie auf andere Weise wieder heraufbeschwor. Die AGPT untersuchen diese Forschungstradition deshalb sehr gründlich (vor allem im zweiten Buch) und zeigen, dass sie deutlich zu kurz sprang bzw. als Teilaspekt in jenen Ansatz integriert ist, der im zweiten Buch der AGPT erarbeitet wird.

12. Ist die Mathematik in den AGPT allgemein verständlich?

Ja. Sofern die Argumentation der AGPT streng mathematisch ist, beruht sie auf der Idee, Aussagen über Differentialgleichungen – und Differentialgleichungen sind wirklich hartes Brot – in Aussagen über die Struktureigenschaften bestimmter Mengen zu übersetzen. Diese Struktureigenschaften wiederum ergeben sich aus der Geltung oder Nichtgeltung bestimmter Axiome und diese sind ihrerseits als Gleichungen formuliert – wie etwa a + b = c, was nicht mehr ist als die abstrakte Formulierung einer beliebigen Addition wie 5 + 3 = 8 oder 17 + 4 = 21. Und das ist sicher nicht die Welt.

 

Dr. Thomas Köller

 

Erwähnte Literatur

Crouch, Colin (2008), Postdemokratie, Frankfurt am Main

Geißler, Heiner (2013), Sapere aude. Warum wir eine neue Aufklärung brauchen, Berlin

Höffe, Otried (2012), Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit, München

Kant, Immanuel (1795), Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Immanuel Kant Werke. Band XI, Frankfurt am Main 1968, 193-251

Neiman, Susan (2010), Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten, Hamburg

Piketty, Thomas (2014), Das Kapital im 21. Jahrhundert, München

Poincaré, Henri (1892-99), Les méthodes nouvelles de la mécanique céleste, Paris

Schirrmacher, Frank (2013), Ego – Das Spiel des Lebens, München

Streeck, Wolfgang (2013), Gekaufte Zeit, Berlin

Stuckler, David/Basu, Sanjay (2014), Sparprogramme töten. Die Ökonomisierung der Gesundheit, Berlin

Varoufakis, Yanis (2012), Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft, München

 

Das Gründungsprogramm des Verlags Neue Aufklärung

Thomas Köller: Allgemeine Grundlagen der Politischen Theorie  1| Das wissenschaftliche Weltbild und die Mechanik des Marktes | Hardcover | 464 Seiten | 29,80 € [D]  ISBN 978-3-945162-00-2

Thomas Köller: Allgemeine Grundlagen der Politischen Theorie  2| Das wissenschaftliche und das egozentrische Menschenbild | Hardcover | 460 Seiten | 29,80 € [D]  ISBN 978-3-945162-01-9

Thomas Köller: Allgemeine Grundlagen der Politischen Theorie  3| Die menschliche Gesellschaft | Hardcover | 333 Seiten | 24,80 € [D]  ISBN 978-3-945162-02-6